Selbstbestimmung im Privatrecht – zur weiteren Diskussion

Autor: Prof. Dr. iur. Walter Boente ist Assistenzprofessor mit tenure track an der Universität Zürich und Inhaber des Lehrstuhls für Privatrecht, Schwerpunkt ZGB (lst.boente@rwi.uzh.ch). Dieser Beitrag ist dem Andenken an Prof. Dr. iur. Daniel Hürlimann gewidmet.

Herausgeber: Prof. Dr. iur. Walter Boente

URL: rechtstexte.online/1

DOI: https://doi.org/10.58591/rt.1

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Zitiervorschlag: Walter Boente, Selbstbestimmung im Privatrecht – zur weiteren Diskussion, Rechtstexte 1 (2023), N.

Mass der Selbstbestimmung ist nach den geltenden schweizerischen Privatrechtsbestimmungen der Wille des urteilsfähigen Menschen. Zum Schutz eines urteilsunfähigen Menschen muss daher begriffsnotwendig ein anderer urteilsfähiger Mensch als dessen Stellvertreter bestimmt werden. Der Mensch selbst bzw. sein heute sogenanntes Wohl tritt in diesem System nur mittelbar hervor, beim urteilsunfähigen Menschen über das sogenannte Innenverhältnis.

Vorliegend wird zur Diskussion gestellt, dieses Wohl bzw. nun ein „Selbst“ des Menschen neu als Mass privatrechtlicher Selbstbestimmung zu begreifen und so zugleich das heute zunehmend im Vordergrund stehende Innenverhältnis nach aussen zu wenden. Das Neben- bzw. Miteinander von Wille und Erklärung würde sich in einem Dreiklang von Selbst, Selbstbeurteilung und Selbstäusserung fortsetzen. Aus Repräsentation würde Präsentation, aus Stellvertretung Interpretation. Verbunden ist damit die Hoffnung, heute drängende theoretische und praktische Probleme, nicht zuletzt im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts, besser in den (Be-)Griff zu bekommen.

Inhaltsverzeichnis

A. Rundschau

B. Neues Recht, altes Begreifen

I. System- und Begriffsbildung im 19. Jahrhundert

II. Die Entmündigung des Menschen

III. Die Bevormundung des Menschen

IV. Das Wohl des Menschen

V. Brennpunkt Zwang

C. Kein Perspektivwechsel im Privatrecht

I. Menschenrechtsperspektive der Grundrechtssätze

II. Menschen mit Behinderungen

III. Erwachsenenschutz als Deckmantel

IV. Der Mensch im Schatten seines Stellvertreters

V. Zwang und natürlicher Wille

D. Menschenrechtsperspektive im Privatrecht – eine Skizze

I. Grenzen des heutigen Privatrechtssystems

II. (Neu-)Begründungsversuch – Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

1. Das Selbst

2. Beurteilung des Selbst

3. Äusserung des Selbst

III. Zwang – die Höhe des Blickpunktes

E. Zusammenschau

Rundschau

Nun wurde also auch für die Schweiz die Umsetzung der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geprüft.1 In seinen am 13. April 2022 veröffentlichten „Concluding observations“ heisst es seitens des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen:

„the Committee recommends that the State party: … Develop and implement … a nationally consistent framework for supported decision-making that respects the will, preferences and individual choices of persons with disabilities. … Review and repeal all legal provisions, policies and practices that allow for the involuntary deprivation of liberty on the basis of disability“.2

Diese und ähnliche, nicht selten „strengere“ Formulierungen, sind uns bereits aus anderen Concluding Observations bekannt, auch im Hinblick auf die österreichische und deutsche Rechtsordnung.3 Unterstellt wird „a general failure to understand that the human rights-based model of disability implies a shift from substitute decision-making paradigm to one that is based on supported decision-making“.4

Solch Beharrlichkeit des Ausschusses mag erstaunen, meinte man doch seitens der Rechtswissenschaft, dem Ausschuss bereits mehrmals erklärt zu haben, dass namentlich die Privatrechtsordnungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz den Vorgaben der Konvention entsprechen; noch mehr gelte dies nach zwischenzeitlich erfolgten oder noch bevorstehenden Reformen dieser Rechtsordnungen.5

Nun scheint der Ausschuss nicht zu begreifen, nicht wie diese Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler begreifen zu wollen, oder gar anders begriffen zu haben. Im besten Fall reden Rechtswissenschaft und Ausschuss nur aneinander vorbei. Näherzuliegen scheint jedoch, dass die nationalen Rechtswissenschaften und der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen eine andere (Rechts-)Sprache sprechen.

Neues Recht, altes Begreifen

Wenden wir uns daher zunächst der heutigen Rechtssprache im Privatrecht zu, ihren Rechtsbegriffen und -sätzen, wie sie denn auch durch die Gesetzgebung niedergeschrieben werden. Im Vordergrund soll hier das Privatrechtssystem der Schweiz stehen. Die Rechtsprachen der deutschen und österreichischen Rechtsordnung unterscheiden sich jedoch in ihren Grundsätzen nicht wesentlich vom schweizerischen Recht.

System- und Begriffsbildung im 19. Jahrhundert

Besondere Prägung hat die heutige Privatrechtsprache im 19. Jahrhundert gefunden. Gestritten wurde damals um die Notwenigkeit eines Systems:

„Wenn man einem des Rechts Unkundigen einen Streit zur Entscheidung vorlegt, so wird er meist nach einem verworrenen Totaleindruck urtheilen, und doch vielleicht bey gesundem Verstand und entschiedenem Character, seiner Sache sehr gewiß zu seyn glauben. Es wird aber sehr zufällig seyn, ob ein Zweyter, von ähnlichen Eigenschaften, dieselbe Entscheidung oder die entgegengesetzte geben wird.“6

Gegenüber solch immer wiederkehrender Zufälligkeit der Rechtsfindung suchte man, bereits gefundenes Recht zu begreifen, in Rechtsbegriffen zu speichern, aus diesen Rechtsbegriffen bzw. mit den diese tragenden Worte Rechtssätze zu formen und diese Einzelteile zu einem Rechtssystem zusammenzusetzen.7 Da man damals jedoch weder solche Begriffe vorfand noch sich in der Lage sah, selbst unmittelbar zu solchen Begriffen zu finden, bediente man sich bei der „trefflichen Kunstsprache“ der Römer, ihren Begriffen,8 als „Bildungsmittel für unsren Rechtszustand“.9 Erst wenn man „gelernt“ habe, „den gegebenen Rechtsstoff mit derselben Freyheit und Herrschaft zu behandeln“, die man „an den Römern bewundern“ würde, könne man sie „als Vorbilder entbehren, und der Geschichte zu dankbarer Erinnerung übergeben“.10

Man verschloss jedoch nicht die Augen davor, dass sich in den Jahrhunderten nach dem Untergang des Römischen Reichs die Perspektive auf das Recht verschoben hatte. So war, nicht zuletzt im Zuge der Aufklärung, als ein Mass der Dinge der „Mensch als Person, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“11 hervorgetreten:

„Der Mensch im System der Natur ... ist ein Wesen von geringer Bedeutung ... Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben, denn als ein solcher ist er ... als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt“.12

Im Vordergrund stand die nun so begriffene Person, nicht der Mensch.13 Betonung erfuhr der Wille des vernunftbegabten Menschen14 – in einem Privatrechtssystem, das vom Grundsatz der Privatautonomie bzw. der Selbstgestaltung Ausgang nahm.15

Die Entmündigung des Menschen

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch wird rechtsvergleichend von einigen als „die reifste Frucht der deutschsprachigen Rechtswissenschaft des 19. Jhs. in Gesetzesgestalt“ bezeichnet.16 Es nimmt nicht Wunder, dass sich die Zentralstellung des so beschriebenen Willens, des vernunftbegabten Menschen auch im System des heute noch geltenden Zivilgesetzbuchs fortsetzt. Grundlegend hierzu sein „Erster Teil: Das Personenrecht“:

Erster Teil: Das Personenrecht …

d. Urteilsfähigkeit

Art. 16 ZGB. Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. …

2. Fehlen der Urteilsfähigkeit

Art. 18 ZGB. Wer nicht urteilsfähig ist, vermag unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen durch seine Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen.

Die Urteilsfähigkeit im Sinne des Zivilgesetzbuches setzt nach Art. 16 ZGB die Fähigkeit voraus, vernunftgemäss handeln zu können. Menschen, die nicht urteilsfähig sind, vermögen nach Art. 18 ZGB durch ihre Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen.17

Dem Menschen als solchem ist daher, untechnisch gesprochen, im Konzert der Privatautonomie sein Mund verboten. Als solcher tritt der Mensch in diesem System nicht als handlungsfähig hervor. Der Mensch hat in diesem Sinne kein Recht, rechtlich wirksam zu handeln bzw. rechtlich wirksam selbst zu bestimmen. Dieses Recht bleibt dem urteilsfähigen Menschen, der urteilsfähigen Person vorbehalten.18

Die Bevormundung des Menschen

Der urteilsunfähige Mensch bleibt dennoch nicht rechtlich unbestimmt und so vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Privatautonomie im Ergebnis rechtsschutzlos. Da rechtlich wirksame Bestimmung im heutigen Privatrechtssystem jedoch eine urteilsfähige Person voraussetzt, muss eine solche urteilsfähige Person begriffsnotwendig an die Stelle des urteilsunfähigen Menschen treten – und ihn, wiederum begriffsnotwendig, fremd bestimmen. Rechtstechnisch wird hierzu ein sogenanntes Fürsorgerecht der urteilsfähigen Person begründet. Durch diesen Vormund wird der urteilsunfähige Mensch dann fremd bestimmt.19

Besondere Bedeutung kommt namentlich dem Sorgerecht der Eltern zu, als in gewissem Sinne natürliche Beschützer des Menschen im Kindesalter, sowie dem staatlichen Kindesschutz, sofern die Eltern solchen Schutz des Kindes nicht gewährleisten können oder wollen. Für den erwachsenen urteilsunfähigen Menschen tritt entsprechend das sogenannte Erwachsenenschutzrecht hervor, in dem ebenfalls durch den (Vor-)Mund der urteilsfähigen Person der urteilsunfähige Mensch fremd bestimmt wird.20

Das Wohl des Menschen

Der Zweck solcher Berechtigung tritt jedoch nur mittelbar hinzu, über eine Pflichtenbindung im sogenannten Innenverhältnis zwischen der urteilsfähigen Person und dem urteilsunfähigen Menschen.21 Aus dem Recht wird ein Fürsorgerecht in diesen Fällen erst durch hiervon getrennt begriffene Pflichten, die nicht das Recht, aber die berechtigte Person an den urteilsunfähigen Menschen (zurück-)binden.22

Im sogenannten Aussenverhältnis, sprich der (Fremd-)Bestimmung des urteilsunfähigen Menschen durch die urteilsfähige Person gegenüber Dritten, ist das Bestimmungsrecht hingegen im Grundsatz schrankenlos.23 Der Wille der urteilsfähigen Person ist bei dieser Rechtstechnik im weiteren Sinne zunächst Selbstzweck.24 Die Bestimmung durch die urteilsfähige Person ist, grundsätzlich auch bei einer Verletzung von Pflichten im Innenverhältnis, im wahrsten Sinne des Wortes wirksam.25

Besonders deutlich tritt dieses nur mittelbare Begreifen des Fürsorgerechts im Schweizerischen Zivilgesetzbuch im Hinblick auf den Schutz von Menschen im Kindesalter mit Art. 296 Abs. 1 ZGB hervor: „Die elterliche Sorge dient dem Wohl des Kindes“. (Art. 296 Abs. 1 ZGB). Vom „Selbst“ des Kindes, des Menschen also, ist hier keine Rede.26 Kaum anders im sogenannten Erwachsenenschutzrecht. Dort ist der über Art. 388 Abs. 1 ZGB zum Ausdruck kommende „Zweck“27 staatlicher Erwachsenenschutzmassnahmen, „das Wohl und den Schutz hilfsbedürftiger Personen sicher[zustellen]“.28

Die, trotz oder wegen ihrer blossen Bezeichnung als Fürsorgerechte, so begrifflich mögliche Verknüpfung dieser Bestimmungsrechte mit im Grundsatz beliebigen Zwecken, wird besonders anschaulich bei körperlich wahrnehmbarer Fremdbestimmung über den urteilsunfähigen Menschen. Dies gilt namentlich in Hinblick auf sogenannte medizinische wie aber auch bewegungseinschränkende Massnahmen, so in gewissem Masse bereits im Hinblick auf die über die (Fremd-)Bestimmung des urteilsunfähigen Menschen selbst hinausweisenden Regelungen zur „Vertretung bei medizinischen Massnahmen“ der Art. 377 ff. ZGB sowie der „Einschränkung der Bewegungsfreiheit“ bei „Aufenthalt in Wohn- und Pflegeeinrichtungen“ der Art. 383 ff. ZGB.29 Noch deutlicher findet sich der Regelungskomplex zur sogenannten Fürsorgerischen Unterbringung begrifflich und inhaltlich vom Menschen selbst abgelöst. So kann nach Art. 426 Abs. 1 ZGB jeder erwachsene Mensch, unabhängig von seiner Urteilsfähigkeit, „in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden“, wenn er „an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist“ und „die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann“ – die „Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen“ (Art. 426 Abs. 2 ZGB).30 Für „Medizinische Massnahmen bei einer psychischen Störung“ bzw. einer „Behandlung ohne Zustimmung“31 wird mit Art. 434 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB unter anderem vorausgesetzt, dass „ohne Behandlung der betroffenen Person ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden droht oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet ist“.

Brennpunkt Zwang

So ist es denn schliesslich auch die anschaulichste Verkörperung von Fremdbestimmung im sogenannten Zwang, in dem das durch die Rechtssprache entfaltete System, dann das mehr oder weniger bestimmte Begreifen anderer Fachsprachen sowie schliesslich die Allgemeinsprache aufeinandertreffen.

Ist ein Mensch urteilsunfähig, kann im heutigen Privatrechtssystem bereits begrifflich solcher Fremdbestimmung, solchem Schutz zumindest nach überkommener Perspektive keine wirksame Selbstbestimmung entgegenstehen, die bzw. entgegen die gezwungen werden könnte.32 Wenig überraschend findet sich so denn auch im Schweizerischen Recht keine Zwangsbehandlung, sondern nur, ausweislich der Randüberschrift zu Art. 434 ZGB, eine „Behandlung ohne Zustimmung“. Was etwa in der Fachsprache der Medizin oder in der Allgemeinsprache in Hinblick auf medizinische Massnahmen an urteilsunfähigen Menschen, mehr oder weniger bestimmt, als Zwang begriffen werden mag, wird bzw. wurde in der Privatrechtssprache grundsätzlich nicht als Zwang begriffen: „Die Tatsache, dass … der Patient vielleicht sich wendet, schreit und strampelt, mag für den Laien nach Zwang aussehen, ist aber ein solcher nur im Vulgärverständnis, nicht aber im Rechtssinne“.33 Bezugspunkt des Zwangs, so wäre auszuformulieren, wäre auch in diesen Fällen der stellvertretende bzw. fremd bestimmte Wille.34

Kein Perspektivwechsel im Privatrecht

Menschenrechtsperspektive der Grundrechtssätze

Die Grund(rechts)sätze, die unser Privatrecht bestimmen, entstammen im Hinblick auf die Selbstbestimmung vor allem dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Damals fiel die rechtstechnische Entfremdung vom Menschen durch die Stellvertretung und die darüber vermittelte Fremdbestimmung nicht sonderlich ins Gewicht bzw. erschien solche Rechtstechnik gar zweckentsprechend, da die heutigen Sorgerechte der Eltern oder des Staates noch bewusst als Herrschaftsrechte bestimmt waren.35

Vor diese Grundsätze der Privatrechtsordnung sind heute (wieder) allgemeine Grundrechts- und Menschenrechtssätze getreten.36 In ihrem Zentrum steht zunächst nicht der vernunftbegabte Mensch, sondern der Mensch als solcher, seine Menschenrechte.37

Doch auch heute noch scheint namentlich die menschenrechtliche Perspektive auf das Recht alles andere als selbstverständlich. So verwundert es nicht, dass auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ etwa das „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“, das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ und das „Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ folgten, die jede für sich noch einmal betonen, dass Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen auch Menschen sind.38

Menschen mit Behinderungen

Gerade in Hinblick auf Menschen mit Behinderungen schien die menschenrechtliche Perspektive denn auch alles andere als selbstverständlich. Sie ist es bis heute nicht. Ausdruck fand und findet dies nicht zuletzt über die verschiedenen Modelle von Behinderung.39 Aus Perspektive des Übereinkommens für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mag man sich für den Blick auf das heutige Privatrechtssystem dennoch zunächst bei folgenden Zeilen beruhigen:

„Das Übereinkommen schafft … grundsätzlich keine Sonderrechte, sondern konkretisiert vielmehr die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenslagen.“40

Erwachsenenschutz als Deckmantel

Nun wird vertreten, namentlich das Schweizer Privatrechtssystem mit seiner Revision des Vormundschaftsrechts und seinem am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen neuen Erwachsenenschutzrecht genüge der Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bzw. müsse auch aus der der Konvention eigenen Perspektive auf das Recht diese Prüfung bestehen.41

Dies mag überraschen, hatte doch die Verabschiedung der Konvention am 13. Dezember 2006 keinerlei Einfluss mehr auf die zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossenen inhaltlichen Arbeiten am neuen schweizerischen Recht.42 Ausgang nimmt man in der Schweiz vielmehr weiter von den überkommenen (Grund-)Grundsätzen, namentlich des sogenannten Personenrechts.43 Aber auch in Deutschland und Österreich meint man, den durch die Konvention begründeten Perspektivwechsel und die in der Konvention ausformulierten Grundsätze in das bereits geltende Privatrechtssystem hineinlesen zu können, oder sie zumindest im Laufe der bereits erfolgten bzw. beschlossenen Reformen nun in das heute geltende Privatrechtssystem eingeschrieben zu haben.44

Vorausgesetzt wird damit weiter namentlich eine urteilsfähige Person für Selbst- und Fremdbestimmungen im Rahmen der Privatautonomie. Die Vertretung der Stelle des urteilsunfähigen Menschen, ein im weiteren Sinne „substituted decision-making“, bleibt damit bereits begrifflich notwendig.45

Man könnte nun versucht sein, die Urteilsfähigkeit immer dann anzunehmen, wenn durch Unterstützung eine Selbstbestimmung möglich ist. Aber zum einen wird der nicht unterstützte, urteilsunfähige Mensch trotz Unterstützung nicht in allen Fällen selbst urteilsfähig, so dass die Notwendigkeit stellvertretender Bestimmung zumindest teilweise fortbestehen würde.46 Zum anderen würden, wenn man unter Unterstützung auch Fälle begreifen würde, in der an Stelle des urteilsunfähigen Menschen ein urteilsfähiger anderer Mensch fremd bestimmt, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung nur mit einem anderen Begriff überhöht. Anknüpfungspunkt der Privatautonomie bliebe die Fremdbestimmung durch die urteilsfähige Person, nicht die Bestimmung des urteilsunfähigen Menschen selbst und ein in diesem Sinne „supported decision-making“.47

Was zunächst nur zwei Seiten derselben Medaille zu begreifen scheint, stellt sich je nach Perspektive als einerseits genauere, anderseits als ungenauere Begrifflichkeit dar, so dass man Gefahr läuft, das Recht nicht mehr richtig zu begreifen.

Zunächst ist es vielleicht nur eine Frage sauberer Begriffsarbeit, ob man in der Frage nach dem Willen zugleich die Frage nach seiner Erklärung, seiner Äusserung aufgehen lässt.48 Gleiches gilt für die Frage, ob man die (Urteils-)Fähigkeit zur Selbstbestimmung mit der Fähigkeit zur Fremdbestimmung zusammenfallen lässt.49

Darüber hinaus droht mit dem Fortschreiben der Zentralstellung des (blossen) Wollens jedoch zum einen weiter, dass in der begrifflichen Zweckneutralität der Bestimmungsrechte untergeht, was der Bestimmung des urteilsunfähigen Menschen selbst dient, und was anderen Zwecken; damit ist nicht nur eine Umerziehung bzw. gesellschaftliche Kontrolle gemeint, sondern etwa auch die begrifflich mögliche Inbezugsetzung des Fremdbestimmungsrechts zu weiteren Zwecken, wie der Gefahrabwendung oder der Strafe.

Zum anderen droht bei Bezugnahme auf eine solche mehr oder weniger bestimmte Mehrheit von Zwecken die Gefahr, dass so auch Zwecke umfasst werden, die bereits an anderer Stelle der Rechtsordnung eine rechtliche Regelung erfahren haben – und nun für die urteilsunfähigen bzw. die betroffenen Menschen im Hinblick auf diesen Zweck eine Sonderregelung, eine Sondergesetzgebung geschaffen wird, die von der allgemeinen Regelung abweicht und unter dem unbestimmten Eindruck eines besonderen Regelungsbedürfnisses einen anderen, oft stärkeren Eingriff in die Rechte der betroffenen Menschen bestimmt. Eine Begründung hierfür wird, namentlich unter dem Deckmantel des Erwachsenenschutzes, dann häufig nicht mehr gegeben. So ist denn etwa mit der Voraussetzung „einer psychischen Störung oder … geistiger Behinderung“ in Art. 426 Abs. 1 ZGB zumindest Raum geschaffen für eine solch abweichende Beurteilung bzw. Vorbe- oder Vorverurteilung.

Der Mensch im Schatten seines Stellvertreters

Dennoch ist der Mensch auch an unserem heutigen Privatrechtssystem nicht spurlos vorbeigegangen. Man findet zu ihm jedoch lediglich über das schon benannte Innenverhältnis und die darüber vermittelten Pflichten der fürsorgeberechtigten Person. Hier fragen wir, häufig (mit-)begriffen unter dem „Wohl“, nach dem Menschen selbst. Und dieses, im weiteren Sinne, Selbst des Menschen, wird zu Anfang seines Lebens dann weitgehend auf sein objektives Menschsein beschränkt, dennoch bereits zu diesem Zeitpunkt besonders subjektiv durch den Menschen selbst geprägt – um dann im Regelfall, mit fortschreitendem Alter, diese subjektive Prägung zunehmend durch den Willen des urteilsfähig werdenden Menschen zu erhalten. Erst bei vorübergehender bzw. vor allem im höheren Alter häufig dauerhafter Urteilsunfähigkeit tritt dann, nun weitestgehend im Begriff eines mutmasslichen Willens aufgehend, das objektive Menschsein wieder hervor.50

Über die Rechtstechnik der Stellvertretung, über die so begriffene Stellvertretung, vermittelt sich jedoch zugleich der Grundsatz, dass die (Fremd-)Bestimmung des betroffenen Menschen wirksam ist, unabhängig davon, ob die fürsorgeberechtigte Person ihre Pflichten erfüllt hat oder nicht.51

(Notwehr-)Rechte sind grundsätzlich nicht begründet, es bleibt nur die Pflicht: Im Einzelfall mag auf Feststellung geklagt werden, dass eine Pflichtverletzung vorliegt bzw. vorlag. Zudem mag, beschränkt durch die Voraussetzung des Beweises eines Schadens, Schadenersatz bzw. Schmerzensgeld infolge der Verletzung der Pflicht verlangt werden. Schliesslich kann die Pflichtverletzung im Einzelfall auch die Entziehung des Fürsorgerechts begründen.

Jenseits dieser Pflicht und ihrer Verletzung ist hingegen ein Beklagen bzw. die Feststellung, dass die fremde Bestimmung nicht dem Selbst des betroffenen Menschen entspricht, nicht möglich. Eine Anfechtung der Fremdbestimmung gerät, abgesehen von einer aus dieser Perspektive eher zufälligen Einkleidung in eine Verfügung des öffentlichen Rechts, gar nicht erst in den Blick.52

Zwang und natürlicher Wille

Schliesslich ist es nun wiederum der Zwang, bei dem die Grenzen des heutigen Begreifens zumindest fühlbar werden. Während man sich im Allgemeinen dadurch zu rechtfertigen versucht, dem Menschen(recht) wäre bei notwendiger Fremdbestimmung über das Innenverhältnis Rechnung getragen, tritt die Unzulänglichkeit der heutigen Privatrechtssprache beim Zwang unmittelbar hervor.

Im deutschen Recht waren es nicht zuletzt die Grundrechtssätze, mit denen vor die speziellen Privatrechtssätze zurückgetreten und so der Mensch selbst in Stellung gebracht wurde. Doch für das, was dort gezwungen wurde, fand man im Privatrechtssystem keinen Begriff – und musste einen solchen daher neu prägen. Noch immer aus der Perspektive des Wollens fand man zum „natürlichen Willen“, als „Willensäußerung …, die von keiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit geleitet wird“.53

Offen aufgeworfen ist damit jedoch die Frage, ob nicht mit dem „natürlichen“ Willen einerseits und dem dann „freien“ Willen andererseits durch „die äquivoke Bezeichnung eines wesentlichen Tatbestandsmerkmals deutlich unterschiedlicher Sachverhalte … der Sinn juristischer Begriffsbildung verfehlt“ wird.54 Zum anderen bleibt aber auch das Begreifen des Menschen selbst so noch wesentlich verkürzt, und sei es nur in Fällen seiner Bewusstlosigkeit:55 Zwischen Hirntod und Bewusstlosigkeit liegt noch viel Mensch selbst, jenseits weiter willenszentrierter Begrifflichkeit. Kaum verwundert daher, dass für den natürlichen Willen nun weiter der Frage nachgegangen wird, wann eben noch genügend Hirnfunktion für einen solchen Willen vorhanden ist.56

Menschenrechtsperspektive im Privatrecht – eine Skizze

Grenzen des heutigen Privatrechtssystems

Trotz allem ist unser Privatrechtssystem somit noch heute um den urteilsfähigen Menschen und seinen Willen herum gebaut, nicht um den Menschen selbst.57 Eine Konzeption, die es bereits begriffsnotwendig macht, zum Schutz des urteilsunfähigen Menschen dessen Stelle durch eine urteilsfähige Person vertreten zu lassen.

Diese Rechtstechnik der Stellvertretung ermöglicht es zugleich, das Fremdbestimmungsrecht zu beliebigen Zwecken einzuräumen, über den Menschen selbst hinaus. War damit im 19. Jahrhundert Raum geschaffen, um das Fremdbestimmungsrecht überhaupt als Herrschaftsrecht über den betroffenen Menschen begreifen zu können, findet man noch heute als Begründung und Bezugspunkt des Fremdbestimmungsrechts einen breiten Fächer verschiedenster Zwecke: Zum Menschen(rechts)schutz im engeren Sinne treten etwa die soziale Kontrolle sowie polizeirechtliche und strafrechtliche Zwecksetzungen. Der Mensch ist weiterhin nur ein Teil der Begründung des dennoch sogenannten Kindes- und Erwachsenenschutzes.

Nun kann man dem Menschen auch im geltenden Privatrechtssystem weitgehend Raum schaffen, trotz der mit der heutigen Begrifflichkeit und den dadurch bedingten Rechtstechniken verbundenen Gefahren.58 Jedoch hat der Blick aus menschenrechtlicher Perspektive gezeigt, dass das heutige Begreifen und die dadurch notwendig bedingten Rechtstechniken alles andere als selbstverständlich sind und als ungenau bzw. überschiessend erscheinen.59

(Neu-)Begründungsversuch – Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

Anzudenken wäre daher, den Menschen selbst in das Zentrum auch des Privatrechtssystems zu stellen bzw. den Zweck der Selbstbestimmung, die im weiteren Sinne „Selbstverwirklichung“, (wieder) unmittelbar zu begreifen.60 Im Vordergrund stünde damit nicht mehr die urteilsfähige Person, ihr Wille, sondern Mass wäre der Mensch, sein Selbst. Das heutige Neben- bzw. Miteinander von Wille und Erklärung würde sich neu in einem Dreiklang dieses Selbst, einer Selbstbeurteilung und einer Selbstäusserung fortsetzen.

Das Selbst

Findet man heute zum Menschen selbst lediglich mittelbar, häufig über den Begriff des „Wohls“ als Mass blosser Pflichten im Innenverhältnis, soll dieses Wohl bzw. dieser Mensch selbst nun auch im Privatrecht unmittelbar als Mass des Selbstbestimmungsrechts bzw. privatrechtlicher Selbstbestimmung begriffen werden.

Zur Bezeichnung des so Massgebenden wird hier das Wort „Selbst“ verwandt.61 Vermieden wird damit namentlich das Wort „Wohl“, wurde es doch nur zu oft bereits als trojanisches Pferd des Paternalismus bzw. als Projektionsfläche für ausser dem Menschen selbst liegende Zwecke ge- und missbraucht. Gleichwohl werden mit diesem „Selbst“ Begriffsinhalte, wie sie bereits heute unter dem „Wohl“ des Menschen begriffen werden, fortgeschrieben, sofern sie aus Perspektive eben dieses Menschen selbst bestimmt sind.62 Im weiteren Sinne mag man sie als „will and preferences“ begreifen.63 Im Ergebnis erreicht wird damit eine Aussenwendung des heutigen Innenverhältnisses.

Auseinandergelegt wäre so zugleich der Zweck der Selbstbestimmung von anderen Zwecken unserer Rechtsordnung und ihren Berechtigungen. Wie diese Rechte im Einzelfall in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, könnte – und müsste nun auch – offen begründet werden.64

Beurteilung des Selbst

Was eine dem Selbst des Menschen entsprechende Bestimmung ist, was sein im weiteren Sinne mutmasslicher Wille ist, ist zu beurteilen bzw. eine „best interpretation of will and preferences“ vorzunehmen.65

Vorausgesetzt wäre damit weiter eine Urteilsfähigkeit, nun als Fähigkeit zur Beurteilung dieses Selbst, als Beurteilungsfähigkeit. Ist der Mensch selbst ohne Unterstützung beurteilungsfähig, würde die Beurteilung durch diesen Menschen allein erfolgen. Er wäre Interpret seiner selbst. (Aktuelle) Beurteilung und (aktueller) Wille würden beim beurteilungsfähigen Menschen (weiter) in eins fallen.

Zugleich wird damit einem offenem Begriff der Beurteilungsfähigkeit bzw. in der heutigen Diktion einer umfassenden Relativität der Urteilsfähigkeit das Wort geredet: Beurteilungsfähigkeit durch Unterstützung wäre ebenfalls als Beurteilungsfähigkeit zu begreifen.66 Sich selbst überlassen bestünde dabei zwar für den unterstützungsbedürftigen Menschen die Gefahr nicht zuletzt von „undue influence“ durch unterstützende Personen.67 Ein damit bzw. noch anders begründetes Schutzerfordernis könnte aber durch eine Umschreibung des bereits heute oft auch als Unterstützung behaupteten Systems des Kindes- oder Erwachsenenschutzes im Rahmen neu begriffener Selbstbestimmung erreicht werden.

Auch Fälle, in denen der Mensch durch Unterstützung nicht beurteilungsfähig wird, sind, an diesem vermeintlichen Kipppunkt zum Begriff der Stellvertretung, nun nicht mehr als „substituted decision-making“ zu begreifen. Jeder Mensch, sein Selbst, wäre nun als Zweck bei der Beurteilung notwendig mit (in-)begriffen. Auch das Beurteilen des Selbst des Menschen durch andere Personen, seines in diesen Fällen im weiteren Sinne mutmasslichen Willen, wäre nun begrifflich notwendig tatsächlicher oder behaupteter Ausdruck des Selbst des Menschen – und so als Unterstützung bei der dem Selbst entsprechenden Bestimmung bzw. als „supported decision-making“ zu begreifen. Aus Stellvertretung würde (auch hier) Interpretation.68

Bereits im Grundsatz anders wäre damit jedoch die Frage des Verkehrsschutzes zu beantworten: Während im heutigen Privatrechtssystem im Grundsatz jede Fremdbestimmung wirksam ist, unabhängig von einer Entsprechung oder Nichtentsprechung des Menschen selbst, wäre aus menschenrechtlicher Perspektive die Selbstbestimmung grundsätzlich nur dann wirksam, wenn sie dem Selbst des Menschen entspricht. Während im überkommenen Privatrechtssystem in allen Fällen die Wirksamkeit der Fremdbestimmung begriffsnotwendig ist und das Selbst des Menschen nur mittelbar über eine etwaige Pflichtverletzung und daran anknüpfende Rechtsfolgen zum Ausdruck kommt,69 wäre neu dieses Selbst, ebenfalls begriffsnotwendig, Bezugspunkt der weiteren Rechtsfolgen.

Dennoch mag auch hier ein Bedürfnis nach Verkehrsschutz hinzutreten, der etwa dadurch erreicht werden könnte, dass Selbstbestimmung, die Produkt einer Unterstützung ist, zunächst, unabhängig von pflichtgemässer oder pflichtwidriger Interpretation, als wirksam zu betrachten ist. Anders als bei der Rechtstechnik der Stellvertretung wäre hier jedoch zugleich der Blick auf eine etwaige Anfechtung eröffnet, mit der eine fehlerhafte Bestimmung des Selbst eben angefochten werden könnte.70 Entstünden Schäden, könnten auch hier Schadenersatzbestimmungen in Erwägung gezogen werden – statt, wie bei der Rechtstechnik der Stellvertretung, das Vorliegen eines Schadens im Regelfall bereits als Voraussetzung der Sichtbarmachung des Selbst aufzustellen.71

Äusserung des Selbst

Zur Beurteilung des Selbst wäre nun auch dessen Erklärung, dessen Äusserung in klare(re) Beziehung gesetzt. Im Gegensatz zur „Stellvertretung im Willen“ kennt man bereits heute die Rechtstechniken einer „Stellvertretung in der Erklärung“, vor allem aber die „Botenschaft“ mit den ihr eigenen Voraussetzungen.72

Auch hier mag nun die dann zu bestimmende Äusserungsfähigkeit in der Regel mit der Beurteilungsfähigkeit zusammenfallen, wenn der Mensch selbst hierzu fähig ist. Ist hingegen der Mensch ohne Unterstützung nicht zu einer Äusserung fähig, wäre auch hier eine Unterstützung der Äusserung vorzunehmen – die in allen Fällen nun als Äusserung des Selbst begriffen werden kann. Die Unterstützungsfähigkeit wäre wiederum selbständig zu bestimmen, was bei der Botenschaft, losgelöst von der Stellvertretung (im Willen), auch bereits heute der Fall.73 Das gleiche gilt für die Rechtsfolgen einer nicht der Selbstbeurteilung entsprechenden Äusserung, für die man seit langem zur Rechtstechnik der Anfechtbarkeit in Verbindung mit etwaigen Schadenersatzansprüchen gefunden hat.74

Zwang – die Höhe des Blickpunktes

Vor diesem Hintergrund scheint denn schliesslich auch der „Zwang“ besser dem jeweiligen (Regelungs-)Zweck entsprechend in den (Be-)Griff zu bekommen.

Aus Perspektive des Menschen, aus der Perspektive seines Selbst, läge Zwang nur dann vor, wenn eben dieses Selbst entgegenstünde.75 Nicht als Zwang wäre es – aus dieser Perspektive – zu begreifen, wenn etwa die Vornahme einer medizinischen Massnahme der Selbstbestimmung des urteilsunfähigen Menschen entspricht und so das Entgegenstehende lediglich Ausdruck der Körperlichkeit ist; etwas untechnisch mag man formulieren: wenn der Mensch ausser sich, ausser seiner Selbst ist.76 Umgekehrt handelt es sich hingegen um Zwang, wenn zwar kein Ausdruck der Körperlichkeit, aber das Selbst des Menschen entgegensteht. Das Abstellen auf einen natürlichen oder einen freien Willen erscheint aus dieser Perspektive als ungenau, teils als unzulänglich, teils als überschiessend.77

Dies schliesst natürlich nicht aus, dass ein entgegenstehender Ausdruck der Körperlichkeit Anknüpfungspunkt dafür sein kann, durch ein besonderes Verfahren sicherzustellen, dass etwa die medizinische Behandlung tatsächlich dem Selbst des beurteilungsfähigen Menschen entspricht.78 Auch ein allumfassender Begriff des „Zwanges“ des Selbst und, oder der Körperlichkeit mag zur Identifizierung von Tatbeständen dienen, die Regelungsbedarf aufweisen.79

Schliesslich könnten mit der Auseinanderlegung des Zwecks der Selbstbestimmung und anderen Zwecksetzungen vorübergehende Unbestimmtheiten des Selbst und damit verbundene Gefahren dem diesen Zweck allgemein, „on an equal basis“,80 dienenden Polizeirecht überwiesen werden.81 Das gleiche gilt etwa für die Regelungszwecke des Strafrechts, „on an equal basis“, namentlich in Gegenüberstellung zu diesem Selbst. Ein selbständiges, anderes Begreifen des „Zwangs“, aus der Regelungsperspektive bzw. Zwecksetzung dieser anderen Rechtsgebiete, wäre somit keinesfalls verschlossen.

Zusammenschau

Was Recht ist, wird im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten im Bereich des Kindesschutzrechts wenig, im Bereich des Erwachsenenschutzrechts noch weniger gesprochen. Häufig werden die anderen beteiligten Professionen so in ihrem Diskurs allein gelassen, obwohl das Recht diesen Diskurs gerade nicht sich selbst überlässt, sondern in weiten Bereichen zumindest die Möglichkeit rechtlicher Beurteilung für sich in Anspruch nimmt.

Ohne Rechtsprechung aber sind die einzelnen Positionen im fachwissenschaftlichen Diskurs darauf verwiesen, sich fortwährend selbst zu rechtfertigen.82 Als Recht gesetzt sind lediglich unbestimmte Rechtsbegriffe, die mangels Rechtsprechung auch weitestgehend unbestimmt bleiben. Wenig verwunderlich brechen sich daher Richtlinien, Leitfäden und Ähnliches Bahn. Aber auch die hiermit vorgetragenen Sätze werden seltenst rechtlich beurteilt. Selbst die sogenannte „Best Practice“ erscheint heute weitestgehend als unverbindlich und liegt, im weitesten Sinne als blosses „soft law“, weiterhin im Dunkeln.

Ein solches Schattenreich ist nicht nur aus rechtlicher Sicht zu beklagen. Auch aus Sicht der Praxis werden die Nachteile solch einer „Black Box“ von (Rechten und) Pflichten beklagt83 – unabhängig davon, ob es um den betroffenen Menschen geht oder der Missstand vornehmlich als Selbstbetroffenheit, etwa im Hinblick auf etwaige Haftungsfragen, verstanden wird.

Die menschenrechtliche Perspektive bzw. der hier vorgetragene Versuch ihrer Umsetzung rückt nun den Menschen selbst in das Zentrum des Privatrechtssystems, macht ihn erst begreifbar. Die Bestimmung seines Selbst wird nun von anderen Zwecken getrennt begriffen, der Mensch selbst zu einem Massstab im Privatrecht und so offen sichtlich für Theorie und Praxis.84 Mit den an solchen (Begriffs-)Inhalten anknüpfenden Rechtstechniken erfolgt eine weitere Mobilisierung der so verstandenen Menschenrechte, die jedoch ohne besondere verfahrensrechtliche Techniken des (Be-)Klagens weiterhin unvollkommen bleibt.85

Der Diskussion wird damit ein System überwiesen, für das es in einer Gesamtschau heissen mag: Same, same, but different. Verbunden ist damit die Hoffnung, nicht nur einen juristischen Taschenspielertrick vorgetragen zu haben86 – und die Überzeugung, dass der zuletzt vom Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen angemahnte Perspektivwechsel auch von der Privatrechtswissenschaft breiter diskutiert werden sollte. So, oder ganz anders.